Das Interview: effiziente erdbebensichere Bemessung von Mauerwerk

Im Juni 2019 kam mit «Murus-P» ein neues Software-Modul für den Erdbebennachweis von Mauerwerk auf den Markt. Entwickelt wurde es in einer Zusammenarbeit der ETH Zürich, des Verbands promur sowie der Cubus AG. Michael Fritsche, CEO der ZZ Wancor AG und Präsident von promur, und Patrick Steffen, Partner bei der Cubus AG, geben Auskunft. 

Michael Fritsche (links) und Patrick Steffen über die Entwicklung von und die Erwartung an die Software «Murus P».

Auszug aus der Fachzeitschrift «die baustellen 10/19».
Text und Foto: Beat Matter

«die baustellen»: Seit Mitte Jahr ist mit «Murus-P» die lang erwartete neue Bemessungs-Software für Mauerwerk nach SIA 266 erhältlich. Wie läuft die Markteinführung?

Patrick Steffen: Wir sind sehr zufrieden. Das Interesse bei den Bauingenieuren an der neuen Software ist gross und bereits haben zahlreiche Büros eine entsprechende Lizenz gekauft. Nun beginnen sie langsam damit, die neue Software in ihrem Planeralltag einzusetzen. 

Michael Fritsche: Auch aus Sicht vom Verband promur ist die Einführung der neuen Software gut angelaufen. Bereits an unserem Mauerwerkstag, den wir Anfang September durchführten, erhielten wir ein gutes Echo. Und auch bei Kontakten mit den Ingenieurbüros, die wir seit Markteinführung intensiv suchen, erhalten wir durchwegs positives Feedback. Es ist eine grosse Genugtuung für uns, nach einer mehrjährigen und anforderungsreichen Forschungs- und Entwicklungsphase mit einem so überzeugenden Produkt auf die Ingenieure zugehen zu können.

 

Von Cubus gibt es bereits seit rund zehn Jahren eine Software (promur 1) zur Berechnung der Erdbebensicherheit von Gebäu-den mit Mauerwerk. Diese wurde über den Verband promur aber nur an eine kleine Zahl von Ingenieurbüros abgegeben. Worin unterscheidet sich nun das neue Software-Modul von der alten Lösung?

Steffen: Die Idee, eine solche Software zu entwickeln, hatten wir tatsächlich vor über zehn Jahren. Das Resultat fiel jedoch nicht so aus, dass eine freie Zugänglichkeit für alle Planer vertretbar gewesen wäre. Seither hatten wir stets den Wunsch und den Ehrgeiz, es besser zu machen und eine massentaugliche Lösung zu entwickeln. Das ist uns mit «Murus-P» nun zweifellos gelungen.

Fritsche: Die Vorläufer-Software promur 1, welche nur für eine begrenzte Zahl von Ingenieuren und über den Verband promur lizenziert wurde, war für uns und den Markt unbefriedigend. Einerseits verlangte sie ein vertieftes Wissen in der Bemessung von Mauerwerk und andererseits lieferte sie in den meisten Fällen den Beleg, dass etwas nicht funktioniert – auch bei Konstruktionen, die bei genauerer Nachprüfung durchaus vertretbar gewesen wären. Die Ingenieurbüros kamen dadurch in eine schwierige Situation. Vonseiten der Bauherrschaft und der Architekten wurde Mauerwerk verlangt, die Bauingenieure waren aber nicht in der Lage, die nötigen Bemessungen sauber und effizient durchzuführen. In der Konsequenz führte dies dazu, dass die Planer und schliesslich auch die Architekten vermehrt auf Beton auswichen. Das ist ab sofort nicht mehr nötig. Denn mit der neuen Software stellen wir den Bauingenieuren ein Werkzeug zur Verfügung, das nachvollziehbar belegt, welche tragenden Mauerwerkskonstruktionen normgetreu funktionieren. Mit dem geforderten Nachweis der Erdbebensicherheit liefert die neue Software den Planern genau das, was ihnen bislang fehlte.
 

Steffen: Ein weiterer zentraler Fortschritt der neuen Software liegt in der Nachvollziehbarkeit der Berechnungen. Während Software von ausländischen Konkurrenten weitgehend als Blackbox funktioniert, deren Ergebnisse nur sehr erfahrene Bauingenieure ansatzweise auf ihre Plausibilität prüfen konnten, macht «Murus-P» als einzige Soft-ware für den Schweizer Markt den kompletten Berechnungsprozess transparent und damit nachvollziehbar. Das erhöht nicht nur das Ver-trauen in die Software, sondern auch das Vertrauen in die Konstruktionsweise massiv. Um dies zu ermöglichen, waren neue wissenschaftliche Erkenntnisse nötig, die uns bei der alten Software noch fehlten. Die entsprechende Forschungsarbeit hat die ETH Zürich in enger Zusammenarbeit mit der Mauerwerksindustrie in den letzten Jahren geleistet.
 

 

Wie muss man sich diesen Forschungs- und Entwicklungsprozess vorstellen?

Fritsche: Ausgangspunkt dieses Prozesses war die Erkenntnis, dass sich die Mauerwerks-Bemessung, wie sie mit der alten Software vollzogen wurde, bisweilen nicht mit praktischen Erfahrungen deckte. Es zeigte sich nämlich, dass es bestehende, konstruktiv einwandfreie Gebäude gibt, die gemäss Berechnung mit der alten Software nicht funktionieren dürften – nicht einmal unter Normalkraft. Gemein-sam mit ETH-Professor Joseph Schwarz beschlossen wir, dieser Diskrepanz wissenschaftlich auf die Schliche zu kommen. 

 

Wie? 

Fritsche: Wir wählten ein bestehendes viergeschossiges Gebäude mit Mauerwerk in Wil (SG) aus. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Professor Schwarz und Professor Mojsilovic haben Studenten der ETH Zürich über den ganzen Bauprozess mit Sensoren die effektiven Verformungen der verschiedenen Mauerwerkswände unter Eigenlasten gemessen und festgehalten. Diese haben wir dann mit dem Berechnungsmodell resp. der Bemessungen mit der Software verglichen. Daraus gingen entscheidende Erkenntnisse für den weiteren Prozess hervor. 

 

Worauf stiessen Sie?

Steffen: Es zeigte sich, dass mit dem Pushover-Verfahren der alten Software – auf der auch die neue Software basiert – durchaus simuliert werden kann, wie sich ein Gebäude verhält, wenn es aus verschiedenen Richtungen angestossen wird. Irgendwann stossen die Mauerwerks-Wände dabei an ihre Traggrenze, die für jede Wand einzeln nachgewiesen werden kann. Die entscheidende Lücke in der alten Software aber war: Sie konnte nicht genau genug aufzeigen, was im Gebäude passiert, wenn die Traggrenze einzelner Mauer-werkswände überschritten und das Tragwerk bis in den plastischen Bereich beansprucht wird. Auch SIA 266 gibt darüber keinerlei Auskunft. Diese Lücke konnte nun geschlossen werden.

Fritsche: In dem gemeinsamen Forschungseffort von ETH Zürich und Mauerwerksindustrie konnten wir aufzeigen und definieren, wie viel Verformung im Mauerwerk bei der Aufnahme von Erdbebenlasten zulässig ist. Wir konnten also aufzeigen, dass Mauerwerk aktiviert werden kann – zwar nicht so stark wie bewehrter Beton, aber gemäss unseren Erkenntnissen aus dem Forschungsprozess ist dies in den meisten Fällen auch gar nicht nötig. Die zulässige Aktivierung des Mauerwerks ist nun exakt der Clou, an dem die neue Software ansetzt. «Murus-P» berücksichtigt automatisch den definierten zulässigen Verformungsbereich und ermöglicht es den Bauingenieuren dadurch, effizient und nachvollziehbar zu zuverlässigen Nachweisen für jede einzelne Wand zu gelangen. 

 

Das Mauerwerk hat in den letzten Jahren – nicht zuletzt durch die erschwerte Bemessung – Marktanteile an den Beton verloren. Welche Hoffnungen knüpfen Sie an die neue Software?

Fritsche: Ich bin überzeugt, dass es uns mit der neuen Software gelingt, Architekten und Bauingenieure wieder vermehrt für den Einsatz von Mauerwerk zu begeistern. Die traditionellen Qualitäten und Vorzüge von Mauerwerk sind bekannt und vielerorts nach wie vor geschätzt. Die Anforderungen in den Bereichen Schall-, Wärme- und Brandschutz haben wir im Griff, hinzu kommen Vorteile beim Baufortschritt und nicht zuletzt beim Preis. Und: Die Bauweise im Wohnungsbau hat sich in den gut 15 Jahren seit Inkrafttreten von SIA 266 (2003) nicht grundlegend verändert. Nach wie vor werden grossmehrheitlich Massivbauten mit Kompaktfassade realisiert. Einzig in der Unterkonstruktion hat es deutliche Verschiebungen hin zum Beton gegeben. Für mich heisst das im Umkehrschluss, dass diese Verlagerung auch wieder in die andere Richtung, hin zum Mauerwerk, gehen kann. Das wird nicht über Nacht geschehen, aber unser Ziel ist es, in zwei, drei Jahren die Hälfte dessen zurückzugewinnen, was wir in den letzten Jahren an den Beton verloren haben. Die neue Software gibt uns die Möglichkeit, wieder anzugreifen. Also greifen wir an. 

 

Wen sprechen Sie hauptsächlich an?

Fritsche: Sowohl Bauingenieure als auch Architekten, in je unterschiedlicher Weise. Den Bauingenieuren erklären wir, wie sie mit der neuen Software Mauerwerk sicher und effizient rechnen können. Und weil die Ingenieure nun dazu in der Lage sind, ermutigen wir die Architekten, in der Materialisierung wieder stärker auf Mauerwerk zu setzen und dabei wieder von dessen bauphysikalischen Vorzügen zu profitieren. 

«Murus P»

«Murus-P» ist ein voll integriertes Softwaremodul des bekannten CE-DRUS-Gebäudemodelles der Cubus AG, die neu in der 8. Generation vorliegt. Das «Murus-P»-Modul ist ab sofort für alle CEDRUS-Kunden zugänglich und für 3900 Franken bei der Cubus AG zu beziehen. Mit dem Programm wird eine ausführliche Dokumentation mitgeliefert, die an konkreten Beispielen aufzeigt, wie mit ihr gearbeitet werden kann. Daneben bietet die Cubus AG Kurse an, in denen Bauingenieure den Umgang mit «Murus-P» erlernen können.

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